Mein liebes Kind.[1]
Eben habe ich deine Geldangelegenheit in Ordnung
gebracht. Aus der Abrechnung der Bank die ich
beilege siehst du, daß du im Ganzen 8904 m[a]rk
35 Pf[ennige][2] erhalten hast. Davon gehen ab 85 m[a]rk
deiner Schuld an Elisabeth,[3] bleiben demnach
8819 m[a]rk von denen ich morgen 7000 in die
Sparkasse zahle und dir heute den Rest,
i[n] e[twa] 1819 m[a]rk 35 pf[ennige] schike. Ich denke du bringst
was du nicht gleich brauchst in die deutsche Bank
oder beßer noch in eine Sparkasse, da die Bank
nicht mehr als 1½ Procent zahlt. Dr. Müller[4]
wird dir wol Auskunft geben.
Hier ist aller leidlich gegangen. Montag
war ich mit Mama[5] im literarischen Verein
im Kunstlerhause wo wir nechst einem mittel-
maßigem Vortrag von Prof[essor] Munch,[6] der weit uber
das Mittelmaß, nehmlich fast 1½ Stunden sprach,
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eine untermittelmaßige Violinistin und zum
Schluß von Julius Stinde[7] eine sehr hubsch vorge-
tragene Humoreske[8] hörten. Percy[9] hat zu
Mamas Aerger heute wegen kranken Magens
die Schule versaumt, wer aber gesund genug
in die Confirmationsstunde zu gehen. Nun
Freitag reist er ab. Inzwischen geht die
große Hausreinigung für die Osterntage
an, was für Niemanden eine Freude
ist. Gesehen haben wir seit deiner Abreise
niemanden. Ettes[10] haben ihre Einladung
zurukgenom[m]en, da sie einen schmerzhaften
Mittelohr katarh[11] hat. Die Nachricht von
der rußischen Paßsteuer, 300 R[u]b[e]l für Inländer
und 100 für Auslander, bewahrheitet sich. Ich
furchte damit wird der Verkehr nach
Mitau[12] hin ganz aufhoren.
Ich selbst steke in Arbeit und sehne mich
nach Ferien. Schreibt doch sobald etwas
zu erzahlen ist. Dir wunsche ich, dass du
findest was du suchst. Heigel[13] und Müller[14]
meine Empfehlung. Alle laßen grüßen
es kußt euch beide[15] in Gedanken
Dein alter Vater
d[en] 19.3.02.
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[1] Edith Rintelen-Schiemann (1876 geboren) ist die älteste Tochter von Theodor Schiemann. Ihr Vater war ein deutscher Historiker, Archivar, Professor für Osteuropäische Geschichte in Berlin und Berichterstatter bzgl. Aussenpolitik für Deutsche Zeitungen. Vgl. Lemmerich, Jost (Hrsg.): Bande der Freundschaft. Lise Meitner – Elisabeth Schiemann. Kommentierter Briefwechsel 1911-1947. Wien: ÖAW (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften 61) 2010.
[2] Mark und Pfennige sind ab 1871 das deutsche Zahlungsmittel. Vgl. Wikipedia: Mark (1871). URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Mark_(1871) (18.01.2017).
[3] Elisabeth Schiemann (1881 geboren) ist die drittälteste Tochter Schiemanns und später eine bekannte Botanikerin. Vgl. Lemmerich, Jost (Hrsg.): Bande der Freundschaft. Lise Meitner – Elisabeth Schiemann. Kommentierter Briefwechsel 1911-1947. Wien: ÖAW (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften 61) 2010. Sie war ausserdem Widerstandskämpferin im „Dritten Reich“. Vgl. Wikipedia: Elisabeth Schiemann. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Elisabeth_Schiemann (12.01.2017).
[4] Nicht identifizierbar.
[5] Caroline geborene von Mulert hatte mit Theodor insgesamt 5 Kinder, 4 Töchter und einen Sohn. Namentlich sind dies Edith (1876), Agnes (1878), Theodor (1880), Elisabeth (1881) und Gertrud (1883). Vgl. Lemmerich, Jost (Hrsg.): Bande der Freundschaft. Lise Meitner – Elisabeth Schiemann. Kommentierter Briefwechsel 1911-1947. Wien: ÖAW (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften 61) 2010.
[6] Nicht identifizierbar.
[7] Julius Ernst Wilhelm Stinde (1841 - 1905) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Vgl. Wikipedia: Julius Stinde. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Julius_Stinde (12.01.2017).
[8] Dies ist eine kleine humoristische Erzählung oder ein Musikstück von heiterem Charakter. Vgl. Duden: Humoreske. URL: http://www.duden.de/suchen/dudenonline/Humoreske%20 (12.01.2017).
[9] Nicht identifizierbar.
[10] Lesung unsicher. Nicht identifizierbar.
[11] Damit ist ein Paukenerguss gemeint, d. h. eine Ansammlung von Flüssigkeit in einem Teil des Mittelohrs. Vgl. Wikipedia: Paukenerguss. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Paukenerguss (18.01.2017).
[12] Mitau ist der deutsche Name von Jelgava in Lettland, 44 km südwestlich von Riga. Bis 1919 war Mitau die Hauptstadt von Kurland, einer der vier historischen Landesteile von Lettland, im Westen an Ostsee und Rigaischem Meerbusen gelegen. Vgl. Wikipedia: Jelgava. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Jelgava (18.01.2017). Theodor Schiemann wurde in Lettland in eine deutschbaltische Familie geboren, besuchte in Mitau das Gymnasium und arbeitete auch eine Weile dort als Hauslehrer. Vgl. Wikipedia: Theodor Schiemann. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Schiemann (18.01.2017). Sein Bruder und dessen Familie lebten ebenfalls in Mitau. Vgl. Onderdelinden, Sjaak (Hrsg.): Interbellum und Exil. Liber Amicorum für Hans Würzner. Abschied von der Riksuniversiteit Leiden. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1991.
[13] Lesung unsicher. Nicht identifizierbar.
[14] Nicht identifizierbar.
[15] Edith und ihr Ehemann Fritz Rintelen.