Meine liebe Edith[1].

 

Herzlichen Dank für deinen Geburtstagsbrief

uber den ich mich, wie uber jede Nachricht

von dir sehr gefreut habe. Dass du so lange

keine directe Mittheilung von mir bekom[m]en

hat nicht an Gleichgiltigkeit oder auch nur an

Vergeßlichkeit gelegen – es geht kein Tag hin

an dem ich nicht zu dir hinüberdenke – sondern

an der Noth und Hetze die jeder Tag[2]

bringt und an der fehlenden Sam[m]lung zu

ruhigem Schreiben. Heute ist Mittwochvormittag

ich habe kein Colleg[3] und damit eine freie

Stunde. Vor allem also entschuldige das Aus-

bleiben des Quartalgeldes, das hatte ich

wirklich vergeßen. Du bekom[m]st es am

1ten[4] August mit dem Monatsgelde.

Du wirst inzwischen erfahren haben daß Eli-

sabeth[5] wieder einen Freier[6] hat, den Haupt-

mann Hübner[7] vom Generalstabe den du

ja von Plenitz[8] her kennst. Es ist noch

keine perfecte Verlobung, aber die beiden

sind mit einander einig, und auch ich habe

 

[Seitenwechsel]

 

eine Aussprache mit ihm gehabt, deren Resultat

die Erlaubniß für ihn war in unserem Hause

zu verkehren, so daß er jetzt ein fast täg-

licher Gast ist. Wann eine formliche Ver-

lobung stattfindet lasst sich noch nicht er-

kennen. Er ist mittellos und eine Heirath

kann natürlich erst erfolgen wenn er

Hauptmann erster Klasse ist, also nach

etwa 3 Jahren und unter der Voraus-

setzung regelmäßiger Zuschuße von mir. Ich

habe ihm die pecuniären Verhältniße

ganz klar gelegt, bevor ich den weiteren

Verkehr gestattete. So hoffe ich wird alles

zum Besten sich wenden, wenn auch die

ununterbrochene Steigerung meines Ausga-

bebudgets eine Anspannung meiner

Arbeitskraft verlangt die sehr groß

ist. Das letzte Jahr mit seinen Aufregungen

und seinem Aerger hat aber bedenklich

an mir gezehrt und ich will mir deshalb

im August 8 Tage Erholung in Landek[9]

gelten wo Thor[10] bereits ist und Elisabeth

bis zum Beginn der Schule hin soll. Ger-

trud[11] folgt einer Einladung zu Kieburgs[12]

nach Schweden, wohin Mama[13] zur

 

[Seitenwechsel]

 

Erholung[14] wird steht noch nicht fest.

Wir haben in letzter Zeit Paul[15] 3 oder 4 Wochen

– ich habe nicht gezahlt – bei uns gehabt, jetzt

ist er nach Greifswald[16] gefahren seine Doc-

torarbeit einzureichen, für die Zeit der

Examenarbeit kom[m]t er aber hierher zurük.

Heute Abend treffen Kepelgees[17] ein, Lescha[18]

war gestern, in meiner Abwesenheit, hier

und hat sehr begeistert von dem Portrait

gesprochen das du für ihn gemalt hast.

Ich freue mich zuhoren, daß du die Empfindung

hast vorwarts zu kom[m]en, wie ich denn auch

finde daß Agnes[19] wesentliche Fortschritte

gemacht hat. Sie brachte ein[20] Fluth von

Musik ins Haus, so daß es mir wahrend

der Buchlertage[21] fast zuviel wurde. Aber

im Ganzen genieße ich es sehr sie wieder

am Klavier zu haben, vor Allem aber

sie selbst in ihrer herzlichen und liebens-

wurdigen Weise wieder zu hause zu sehen.

Ich kom[m]e mir mit meinen 55 Jahren sehr

alt vor und bin auch im letzten Jahr ent-

schieden gealtert, so daß mir gelegentlich

um meine Spannkraft und Productions-

fahigkeit bange wird.

Mit Mama geht alles sehr gut, sie ist

 

[Seitenwechsel]

 

trotz gelegentlicher Migranen gesund und in

guter Stim[m]ung. Natürlich sehr durch Elis[abeth]

Angelegenheit in Anspruch genom[m]en.

Willst du ein Exemplar meines Buches

über Pauls Ermordung und die Thronbe-

steigung Nikolais[22] haben? Die Texte sind

freilich zum Theil französisch, und ich weiß

nicht ob diese abliegende Dinge für dich

von Interesse sind.

Das ist so ziemlich alles was es zu berichten

giebt. Wie du siehst werden wir bald

ein ziemlich leeres Haus haben. Mir liegt

alles daran, daß ich dann in Ruhe ar-

beiten kann und grundlich vorwärts kom[m]e.

Schreibe wenn du Lust und Stim[m]ung dazu

hast, jeder Brief ist ein Stük Sonnen-

schein. Es kußt dich in Gedanken

Dein alter treuer

Vater.

d[en] 23. VII. 1902.

Berlin.

 

[Seitenwechsel]

[Seite 5 ist leer]

 

[1] Edith Rintelen-Schiemann (1876 geboren) ist die älteste Tochter von Theodor Schiemann. Ihr Vater war ein deutscher Historiker, Archivar, Professor für Osteuropäische Geschichte in Berlin und Berichterstatter bzgl. Aussenpolitik für Deutsche Zeitungen. Vgl. Lemmerich, Jost (Hrsg.): Bande der Freundschaft. Lise Meitner – Elisabeth Schiemann. Kommentierter Briefwechsel 1911-1947. Wien: ÖAW (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften 61) 2010.

[2] Hier wurde „so mit-“ gestrichen.

[3] Abkürzung von Collegium.

[4] Der Anführungsstrich ersetzt den Punkt nach der Ordinalzahl. Ordinalzahl 1 – der erste. Gemeint ist hier der 1. August.

[5] Elisabeth Schiemann (1881 geboren) ist die drittälteste Tochter Schiemanns und später eine bekannte Botanikerin. Vgl. Lemmerich, Jost (Hrsg.): Bande der Freundschaft. Lise Meitner – Elisabeth Schiemann. Kommentierter Briefwechsel 1911-1947. Wien: ÖAW (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften 61) 2010. Sie war ausserdem Widerstandskämpferin im „Dritten Reich“. Vgl. Wikipedia: Elisabeth Schiemann. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Elisabeth_Schiemann (12.01.2017).

[6] „Freier“ hatte im 19. Jahrhundert u.a. noch die Bedeutung von „der Werbende, der Buhlende, nicht schon der Bräutigam und nicht schon der Heiratende“. Vgl. Grimm’sches Wörterbuch: Freier. URL: http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GF08354#XGF08354 (18.01.2017).

[7] Bruno Hübner war Hauptmann aus dem Grossen Generalstab und später kurzzeitiger Verlobter Elisabeth Schiemanns. Vgl. Lemmerich, Jost (Hrsg.): Bande der Freundschaft. Lise Meitner – Elisabeth Schiemann. Kommentierter Briefwechsel 1911-1947. Wien: ÖAW (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften 61) 2010.

[8] Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Plänitz, ein Gemeindeteil von Plänitz-Leddin der Neustadt (Dosse) in Brandenburg, Deutschland. Vgl. Wikipedia: Neustadt (Dosse). URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Neustadt_(Dosse) (18.01.2017).

[9] Landeck ist eine Stadt in Tirol, Österreich. Vgl. Wikipedia: Landeck (Tirol). URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Landeck_(Tirol) (18.01.2017).

[10] Dies ist der Rufname von Schiemanns einzigem Sohn (geboren 1880), Theodor Schiemann. Vgl. Lemmerich, Jost (Hrsg.): Bande der Freundschaft. Lise Meitner – Elisabeth Schiemann. Kommentierter Briefwechsel 1911-1947. Wien: ÖAW (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften 61) 2010.

[11] Gertrud Schiemann (geboren 1883) ist die jüngste Tochter Schiemanns. Vgl. Lemmerich, Jost (Hrsg.): Bande der Freundschaft. Lise Meitner – Elisabeth Schiemann. Kommentierter Briefwechsel 1911-1947. Wien: ÖAW (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften 61) 2010.

[12] Nicht identifizierbar.

[13] Caroline geborene von Mulert hatte mit Theodor insgesamt 5 Kinder, 4 Töchter und einen Sohn. Namentlich sind dies Edith (1876), Agnes (1878), Theodor (1880), Elisabeth (1881) und Gertrud (1883). Vgl. Lemmerich, Jost (Hrsg.): Bande der Freundschaft. Lise Meitner – Elisabeth Schiemann. Kommentierter Briefwechsel 1911-1947. Wien: ÖAW (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften 61) 2010.

[14] Hier ging wohl das Verb „gehen“ vergessen.

[15] Paul Schiemann (mit bürgerlichem Namen Carl Christian Theodor Paul Schiemann) ist der Neffe von Theodor Schiemann und der Sohn von Julius und Anna Schiemann (geborene Johannsen). Später wurde er Politiker und Publizist. Vgl. Wikipedia: Paul Schiemann. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Schiemann (18.01.2017). sowie vgl. Onderdelinden, Sjaak (Hrsg.): Interbellum und Exil. Liber Amicorum für Hans Würzner. Abschied von der Riksuniversiteit Leiden. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1991.

[16] Damit ist Greifswald gemeint, die Universitäts- und Hansestadt im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern. Vgl. Wikipedia: Greifswald. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Greifswald (18.01.2017). Hier absolvierte Paul Schiemann zu dieser Zeit sein Rechtsstudium und promovierte noch im selben Jahr (1902). Vgl. Wikipedia: Paul Schiemann. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Schiemann (18.01.2017).

[17] Lesung unsicher, evtl. auch Kepelgers zu lesen. Nicht identifizierbar.

[18] Lesung unsicher. Nicht identifizierbar.

[19] Agnes Schiemann (1878 geboren) ist die zweitälteste Tochter von Theodor Schiemann. Vgl. Lemmerich, Jost (Hrsg.): Bande der Freundschaft. Lise Meitner – Elisabeth Schiemann. Kommentierter Briefwechsel 1911-1947. Wien: ÖAW (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften 61) 2010.

[20] Gemeint ist hier wohl „eine“.

[21] Lesung unsicher. Nicht identifizierbar.

[22] Siehe dazu Schiemanns Werk: Schiemann, Theodor: Die Ermordung Pauls und die Thronbesteigung Nikolaus I. Berlin: Verlag Georg Reimer 1902.